2. August 1957

319 0 0

Die sechs Stunden des Flugs waren unbequem und hart gewesen, aber das gemeinsame Schweigen in der lärmenden Kulisse hatte auch etwas Meditatives. Leonid schlief bald ein, sein Kopf sackte auf Aleksandras Schulter. Sie blickte besorgt auf die Bordwand, glättete von Zeit zu Zeit ihren Rock oder spielte mit Utensilien aus ihrer Handtasche. Johann fiel auf, dass auch Thomas bald eingeschlafen war, anscheinend ein Merkmal der Soldaten, auch unter diesen Umständen schlafen zu können. James hatte ein Heftchen herausgeholt, doch Johann konnte in dem düsteren Innenlicht kaum erkennen, dass es englische Textzeilen waren. ‚Sicher wieder ein Spionageroman.‘

Die Ankunft in Addis Abeba verlief völlig unspektakulär. Während Thomas mit Leonid und Aleksandra zum Ticketschalter ging, blieb Johann bei James.

„Du hast uns sehr geholfen. Wir hätten Tage verloren, wenn wir in Stonetown hätten auf das nächste freie Luftschiff warten müssen.“
James, der sonst immer so entspannt war, runzelte die Stirn: „Du fliegst jetzt wirklich nach Wien?“
Johann blickte James in die Augen. Es war eine klare Frage, es gäbe nur Wahrheit oder Lüge als Antwort. Johann warf einen Blick auf die Drei am Ticketschalter. Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn du ein Problem hast, sei es auch mit diesen Dreien, dann sag es mir jetzt. Hier auf einem internationalen Luftschiffhafen kann dir niemand etwas anhaben. Ich lasse dir die Wahl: Noch kann ich dir helfen.“
Johann überlegte, dann drückte er James an sich und flüsterte in sein Ohr: „Ich erkläre dir in Rom, wo ich gewesen sein werde. Mir droht keine Gefahr, aber ich will dich nicht noch tiefer involvieren. Ich danke dir dafür, was du für uns Vier getan hast.“
„Wie du willst. Ich warte in Rom. Auf deinen Bericht.“ James verabschiedete sich und begab sich zum Abflugschalter für das Luftschiff Richtung London. Es waren nicht viele Leute am Luftschiffhafen, es war erst 5 Uhr früh, das Luftschiff würde in einer Stunde starten, aber die Gäste hatten ihr Gepäck selbst zu besorgen.
Thomas kam mit den beiden zurück und übergab Johann ein Ticket. „Wir fliegen über Monrovia: 64 Stunden quer über die Wüste; und dann wird es erst richtig hart: 83 Stunden bis Bogota und unter uns nur der Atlantik.“
Johann überschlug das kurz im Kopf, das wären knappe sechs Tage, hoffentlich schnell genug, um Aleksandras Bruder vor allzu großer Folter zu bewahren. Aber er konnte sich nicht vorstellen, welche Ungeduld in Leonid und Aleksandra brodeln musste, die beide um einen geliebten Menschen bangten.
Bis das Luftschiff startete, sollte die Gruppe auf Thomas Vorschlag hin an dem gut ausgestatteten Flughafen zumindest etwas Gepäck kaufen. Das Geld von Oberleutnant Lamprin war sehr großzügig bemessen, auch wenn Thomas nicht sicher war, ob es echt, gefälscht oder gestohlen war.
Johann hatte schon den Flug in dem Flugzeug für eine Wundertat gehalten, doch das Luftschiff, das in der Morgensonne vor ihnen prangte, raubte ihm fast den Atem. Einmal hatte er die VN1 in Rom vorübergleiten gesehen, als der Generalsekretär der Vereinten nationen zu einem Staatsbesuch beui König Umberto vorbeigekommen war aus Genf, doch da war die himmelblaue Zigarre hoch über der Ewigen Stadt geschwebt. Nun ging Johann wirklich auf die Stiegenanlage zu, die den vierzig Passagieren den Weg in das Unterdeck des Luftschiffs ermöglichte. Ein Steward begrüßte alle in gut trainiertem Französisch: „Billets bitte! Herzlich willkommen auf der Gebrüder Lumiere! Rechts ist der Salon und das Lesezimmer, links der Speisesaal, in dem für Sie ein knuspriges Frühstück wartet, und die Bar mit bereits bereiteten Abflugtinis, lustigen begrüßungscocktails. Die Gästezimmer befinden sich im mittleren Gang, ihr Gepäck ist bereits ausgepackt. Genießen Sie den Flug von Addis Abeba nach Monrovia.“
Leonid raunte Thomas ins Ohr: „Ich gehe mit Aleksandra in die Kabine. Wenn jemand fragt, sie hat Angst durch die Panoramafenster zu sehen, dass wir über der Wüste abstürzen könnten. Dann brauchen wir niemandem zu erklären, warum Leute mit britischem Pass Russisch reden. Ich werde das Mittagessen holen kommen.“ Thomas nickte und streifte wie zufällig Leonids vorstehenden Haarschopf. Er zog Johann mit sich in den Salon, ein breiter Raum mit zwei Ebenen, auf deren höherer ein Klavier aus Aluminium stand. Im unteren Bereich standen bequeme Drehsessel an der beeindruckenden Glasfront.
„Zweimal Schwarztee.“ erbat Thomas, nachdem der eifrige Kellner nach den Wünschen gefragt hatte. „Auf Kabine 7.“
Johann setzte sich und beobachtete die Arbeiten ausserhalb auf dem Flugfeld. „Und jetzt?“
Thomas blickte sich um, aber die anderen Gäste schienen eher in den Kabinen zu ruhen oder im Speisesaal ein Abflugfrühstück zu genießen, auch der Kellner war mit dem Tee noch nicht zurück.
„Wir werden viel Zeit zum Reden haben, während wir über die Wüste fliegen. Und noch mehr über der offenen See.“
Johann schauderte bei dem Gedanken, in so einem Luftballon über ein gigantisches Meer zu fliegen. Draußen starteten die Dieselmotoren, während Arbeiter die Verankerungsseile lösten.
„Wir helfen Aleksandra und Leonid.“ Johann versuchte, diese verrückte Reise für sich und Thomas zu rechtfertigen.
„Wir verraten unsere Institutionen, um zwei Menschen zu helfen, jemanden zu retten, den wir in Österreich auch einsperren und ausfragen würden.“
Der Kellner öffnete die Salontüre und balancierte die zwei versilberten Aluminiumkännchen auf einem leichten Tablett. Er stellte zuerst ein Rondeau mit Milch, Zitronenscheiben, Honig und Kandiszucker auf den Tisch, dann die beiden Teekännchen und zuletzt zwei Tassen aus Porzellan, das so dünn war, dass man die Morgensonne durchscheinen sah. Dann verließ er den Raum wieder.
Johann betrachtete die Zitronenscheiben. „Es sind noch andere Leute auf diesem Luftschiff. Wir wissen auch nichts über deren gute und schlechte Pläne.“ Er bemühte sich, nicht zu zynisch zu klingen.
„Was hat diese Frau mit dir gemacht? Es kann doch nicht nur die Rettung vor dem Putsch gewesen sein. Als wir mit dem Zug nach Moskau fuhren, warst du ganz anders. Bist du zu einem Spion der Russen umgedreht worden?“
„Natürlich nicht!“ Johanns Antwort fiel schärfer aus als er wollte. „Ich habe fiel mit Aleksandra gelesen, wir haben über Theologie und Philosophie geredet - und über Architektur. Wir sind in einer Zeit des Aufbruchs, des Aufbaus. Wenn wir miteinander in die Zukunft gehen, die Schöpfung gestalten, dann werden die Wunden des Krieges heilen.“ Thomas goss Tee ein und warf zwei Stück Kandiszucker hinein. Johann ließ sich nicht beirren: „Wir können gemeinsam etwas aufbauen, auch wenn wir nicht die Weltanschauung oder den Glauben des anderen teilen. Das habe ich in Moskau gelernt. Es hat mein Denken erweitert, nicht verändert.“
„Ach ja, um welches Gebäude geht es denn, wenn ich den geheimnisvollen Hochwürden fragen darf?“ Thomas goss auch Johann ein, der überlegte, ob er eine Zitronenscheibe in den Tee geben sollte.
„Ich habe meinem kirchlichen Oberen - übrigens in Anwesenheit deines Oberstleutnants Verschwiegenheit gelobt. Aber es ist nichts Militärisches oder etwas, das Österreichs Sicherheit gefährdet. Im Gegenteil, es geht um eine Garantie unsrer Sicherheit.“
Thomas nahm noch zwei Würfel des Kandiszuckers und warf sie zornig in seinen Tee. Dann rührte er aggressiv um. „Lass mich raten: Wiens Breitspuranschluss.“
Johann zögerte; er versuchte sich verzweifelt abzulenken, griff eine Zitronenscheibe und warf sie in den Tee, vor Nervosität allerdings in Thomas’ Tasse. „Es ist gut, weil…“
„Du musst nicht mehr sagen! Abgesehen davon, dass ich Zitronen nicht mag, möchte ich dir einmal etwas sagen: Du bist grenzenlos naiv! Hast du schon mal überlegt, wie schnell die Kommunisten von Prag und Wien mit dieser Bahn Truppen nach Wien verlegen können?“
Johann war verärgert. Darüber hatte er zwar nicht nachgedacht, aber anderes hatte ihn schon beschäftigt: „Wer ist hier naiv? Warum sollten die Rotarmisten Wien wieder besetzen, das sie erst vor zwei Jahren verlassen haben. Wenn wir mit Prag und Budapest und Genf verbunden sind, wird niemand einmarschieren und jeder uns respektieren, als neutralen Knotenpunkt.“
„Du klingst wie ein Politoffizier der Werbeabteilung: Wenn Wien Bahnhof wird, gibt es zwei neue Atomkradtwerk zur Elektrifizierung der Strecke.“
„Ja und? Diese Kraftwerrke werden europaweit gemeinsam von der Breitspurbahngesellschaft verwaltet und gesichert. Zwischenfälle sind extrem unwahrscheinlich.“
Thomas trank zornig einen Schluck von dem Tee, verzog das Gesicht und fischt die Zitronenscheibe mit dem Löffel heraus, bugsierte sie in Johanns Tasse, dessen abwehrende Hände er ignorierte. „Ein Kraftwerk in Tschechien, eines in Ungarn? Und du Tagträumer denkst nicht daran, dass sie damit doppelt soviel Plutonium für ihre Nuklearbomben erzeugen wie bisher?“
Johann erstarrte. Es war nicht das sanfte Abheben des Luftschiffs, es war der Schock über das, was Thomas ihm gesagt hatte. Aleksandra hatte nie von Atomwaffen gesprochen, sondern von Verbindung, von Österreichs historischer neuen Rolle, von dem Schienennetz, das zum ersten Mal seit der römischen Militärstraßen ganz Europa verbinden würde. Von Lissabon bis Helsinki, von Amsterdam bis Istanbul, von Rom bis Oslo, ein pulsierendes Netz, das nur in gemeinsamer Verantwortung betrieben würde und deshalb jeden künftigen Krieg verhindern könnte. Und sie hatte noch etwas angedeutet. „Wien wäre nicht nur Teil des europäischen Kreises.“, flüsterte Johan zaghaft.
Thomas beugte sich vor. „Ich verstehe nicht, was du meinst?“
Johann war so aufgeregt gewesen. Es war der vorletzte Tag in Moskau, als Aleksandra ihm die Karte gezeigt hatte. Inzwischen hatte das Luftschiff Addis Abeba hinter sich gelassen und orientiete sich nach Westen Richtung Monrovia. Johann flüsterte, nach vorne gebeugt: „Es gibt einen Plan bei den Vereinten Nationen, noch zwei Kontinentaleisenbahnen zu initiieren. Die asiatische Breitspurbahn enthält den bereits fertigen Ast von Moskau bis Istanbul, und dann von dort über Teheran, Kabul, Delhi, Quonging und Tokio zurück nach Moskau. Und die afrikanische Breitspurbahn, die Istanbul mit einem Halt am Suezkanal mit Addis Abeba verbinden wird, von dort nach Accra und Monrovia.“
Thomas schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Und du glaubst, das brächte uns Öl aus Liberia und Gold aus Ghana und Weihrauch aus Äthiopien? Tausende Kilometer Schienen in der Wüste. Und noch mehr Kraftwerke in unbeobachtetem Gebiet. Und das sollen die Vereinten Nationen wollen? Oder ist es eine Intrige von Moskau und Istanbul? Hast du schon mal dran gedacht, dass diese Linien quer durch die Kolonien Frankreichs, Großbritanniens, Portugals oder der Niederlande schneiden müssen? Was, wenn deine neuen Freunde dann gleich auch dort neue Satellitenstaaten gründen und Bahnhöfe zu deren Versorgung errichten, um das maritime Monopol Europas zu umgehen. Wollen sie gleich auch noch die belgischen Diamantenminen im Kongo anschließen?“
Johan schwieg betroffen. Der geniale Plan der Schienenverknüpfung der unabhängigen Welt, jenseits der luxuriös überteuerten Luftschiffrouten, hatte ihm gefallen, ja, war ihm als Option für die Armen erschienen. Doch so wie Thomas das darstellte, konnte das auch nur ein ganz böser Vorwand für revolutionäre Weltumgestaltung dienen. Unter ihnen zog das majestätische Hochland Äthiopiens in aller Ruhe dahin, kein Vergleich zu dem unbequemen Knattern der De Havilland DH.104 Dove, mit der sie durch James Hilfe von Sansibar nach Addis Abeba geflogen waren. Die Schönheit der Landschaft war kein Trost für Johanns Verwirrung. War er naiv, war Aleksandra naiv? Oder war Thomas, der militaristische Schwarzseher, naiv?

Please Login in order to comment!