14. August 1957

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Als Johann in Wien aus dem Luftschiff stieg, wurde er an der Passkontrolle von zwei Uniformierten angesprochen: „Herr Doktor Erath. Herzlich willkommen in Österreich. Bitte folgen Sie uns! Ihr Gepäck wird von uns abgeholt werden. Jemand möchte sie dringend sprechen.“
Wie in Trance ließ sich Johann durch verschlungene Wege zu einer schwarzen Limousine bringen, die ihn auf direktem Weg zur Nuntiatur brachte. Er war inzwischen wieder relativ nüchtern und bereute es nicht, von Leonid und Aleksandra nicht Abschied genommen zu haben. So musste er zumindest nicht noch einmal an ihr Auseinandergehen am Vorabend und damit den Anlass für sein Besäufnis in Cartagena nachdenken. Der Flug zurück war an ihm vorbeigezogen, trotz der zwei schweren Unwetter über dem Atlantik. Der Umstieg in Madrid war gut organisiert gewesen, auf beiden Flügen hatte er die Kabine für sich alleine gehabt.
In der Nuntiatur wartete Prälat dell‘ Acqua in einem Besprechungszimmer auf ihn. Trotz der späten Stunde, es war fast Mitternacht, begrüßte er ihn mit einem freundlichen Händedruck und ließ ihn dann Platz nehmen: „Doktor Erath, Sie haben auf der ganzen Linie hervorragende Arbeit geleistet. Durch indirekte Kanäle wurde uns von der anderen Seite signalisiert, dass Sie auch in Zukunft gerne als Gast in der Sowjetunion gesehen werden. Und man hat uns zugesichert, dass innerhalb der nächsten drei Jahre nach und nach alle Geistlichen, die aus politischen Gründen verhaftet sind, freigelassen werden. Das Breitspurbahnprojekt wird Österreich einbinden und damit die direkte Transportlinie des Ostblocks von Nord nach Süd unterbrechen. Um unsere Zufriedenheit auszudrücken, darf ich Ihnen das päpstliche Ernennungsschreiben zum Kaplan seiner Heiligkeit übergeben. Es mit dem morgigen Datum, mit dem Fest der Aufnahme Mariens, versehen.“
Der Prälat nahm eine mit dem päpstlichen Wappen verzierte Mappe vom Tisch und hielt sie Johann hin. Doch Johann wirkte geistesabwesend. Der Prälat legte die Mappe vor Johann hin. „Ihre Reaktion verwundert mich ein wenig, aber wahrscheinlich hat diese ungesunde Fliegerei Sie erschöpft. Man sollte Ozeane auf sicheren Schiffen überqueren, nicht in Ballons. Aber bedenken Sie: Sie sind einer der jüngste Priester, dem diese Auszeichnung zuteil wird. Es ist ein weiterer Schritt zu einer bedeutenden Funktion in der Kirche. Geht es Ihnen nicht gut? Leiden Sie noch unter den Nachwirkungen des Fluges?“
Langsam fasste sich Johann: „Danke. Ich bin mir der hohen Ehre bewusst, die diese Ernennung bedeutet. Ich weiß freilich nicht, ob sie mir zusteht. Ob ich meinen Auftrag wirklich gut erfüllt habe, kann ich nicht sagen. Ich habe mehrere kirchliche Gebote übertreten, Mitbrüder belogen und Christen durch mein Schweigen in Gefahr gebracht.“ 
Dell’Acqua schüttelte den Kopf: „Sie haben diese Auszeichnung ja nicht eingefordert. Die zuständigen Stellen haben Sie für geeignet gehalten. Und wir werden den Auftrag noch vertiefen. Im diplomatischen Betrieb ist es manchmal nötig, persönliche Schuld auf sich zu laden, um größeres Unheil zu verhindern. Sie sollten zuerst einmal etwas Urlaub machen. Besuchen Sie Ihre Familie oder Studienkollegen, sobald sie mir ihren Abschlussbericht vorgelegt haben. Im September werden Sie zu mir nach Rom kommen. Ich werde dort persönlich Ihre weitere Ausbildung übernehmen. Ihr Bischof ist darüber bereits informiert worden.“
Johann überlegte, dass er James besuchen würde. Mit seiner Familie wollte er noch nicht sprechen. Er müsste ihnen weitere Lügen über die Nordafrikaexkursion erzählen. Bei einem Treffen mit dem lebensfrohen James könnte er nicht nur die lange geplante England-Reise unternehmen. Er könnte auch zu dem einzigen Priester gehen, bei dem er das beichten könnte, was ihm auf dem Herzen lag. Danach nach Rom zu fahren, lag für Johann noch in weiter Ferne: Was für eine Ausbildung sollte das sein? Und wenngleich dieser Karrieresprung, der so unerwartet kam, seinen Ehrgeiz wieder anspornte, fühlte er sich doch müde, ausgelaugt und traurig. Er wusste, dass Aleksandra, Leonid und Thomas nur eine kleine Episode in seinem Leben waren, nicht einmal ein halbes Jahr waren sie nun zusammen gewesen, doch die Ereignisse hatten sie auf eine besondere Weise verbunden. Aber er war auch früher immer damit zurechtgekommen, seine Gefühle zu moderieren und zielstrebig seinen Weg zu gehen. Das müsste er nur einfach wieder lernen. Und in einer Atmosphäre, in der er auch sein liturgisches Leben wieder in gewohnter Weise und nicht mehr heimlich ausleben konnte, sollte das keine größere Schwierigkeit werden.

Aleksandra betrat das Vorzimmer von General Schelepins Büro. Dessen Sekretärin, die wie Aleksandra in schlichtes Grau gekleidet war, schaute kurz über den Rand ihrer Brille und deutete dann stumm auf die Sitzbank für die Wartenden.
Alexandra wartete etwa eine halbe Stunde, bevor Schelepins Sekretärin sie ansprach und in das Büro schickte. Der General saß, im schlichten Anzug, hinter seinem großen Schreibtisch, daneben stand in Uniform Oberst Zollnikow, der Presseverantwortliche des sowjetischen Verteidigungsministeriums. Aleksandra erinnerte sich, ihm in der Oper vorgestellt worden zu sein. Der General eröffnete das Gespräch: „Aleksandra, du hast unsere Erwartungen übertroffen. Und das ist schwierig, denn bei dir waren unsere Erwartungen schon sehr hoch. Es wird hier in nächster Zukunft einige Veränderungen geben. Doch zunächst möchte ich das Wort an Oberst Zollnikow weitergeben, der dir einige Punkte zu erklären hat.“
Der Oberst räusperte sich, zog aus einer Mappe ein Blatt und gab es Aleksandra: „Es wird für Sie schmerzlich sein, aber wir mussten für die sowjetische Öffentlichkeit die Ereignisse von Cartagena ein wenig anpassen. Dieser Bericht wird offiziell erscheinen.“ Aleksandra überflog den Text und konnte ein leichtes Kopfschütteln nicht unterdrücken. In gewohnt überladener Weise wurde hier der Heldentod der beiden Konteradmirale Ossipenko und Piatnizki im Kampf gegen die kolumbianischen Faschisten gerühmt.
„Wie Sie sehen, haben wir ihren Bruder posthum zum Konteradmiral befördert. Er wird ein besonderes Denkmal an der Marineuniversität in Leningrad erhalten. Und in einiger Zeit wird ein U-Boot nach ihm benannt werden. Ossipenko durften wir nicht als Verräter darstellen, um nicht weitere Desertionen zu provozieren. Er wird aber gemäß interner Regelung aus der Traditionspflege ausgeschlossen. Damit verhindern wir, dass Schiffe, Gebäude oder Ausbildungsjahrgänge nach ihm benannt werden.“ erklärte Zollnikow.
Schelepin schaute auf Aleksandra, die ruhig nickte, dann holte er eine kleine Kassette aus seiner Schreibtischlade und ging zu Aleksandra. Er öffnete das Kästchen, holte einen Orden heraus und befestigte ihn an Aleksandras Jacke: „Im Namen des Volkes der Sowjetunion und im Auftrag der Kommunistischen Partei verleihe ich Dir, Aleksandra Ossipowna Piatnizkaja, den Titel Heldin der Sowjetunion. Mit nächsten Monatsersten wirst Du Leiterin der Abteilung für wissenschaftliche Zusammenarbeit. In deiner Hand liegt dann die Verantwortung für die gesamte Koordination unserer entsprechenden Bemühungen weltweit. Du unterstehst in diesen Belangen unmittelbar dem Außen- und dem Wissenschaftsminister, die dir aber in der Auswahl der Projekte und des Personals völlig Freiheit lassen werden. Für deine besonderen Dienste bin weiterhin ich der alleinige Ansprechpartner. Dein Vorgänger wird sich in Zukunft als Bürgermeister einer sibirischen 2000-Einwohner-Gemeinde bemühen, den Schaden, den er im Rahmen des Putsches angerichtet hat, abzubauen. Es steht dir frei, Genossen Schachlikow, Genossin Gussewa oder andere als persönliche Mitarbeiter in deinen Stab zu holen.“
Aleksandra ergriff Schelepins entgegengestreckte Hand automatisch. „Aleksandra, du wirst außerdem zum Generalleutnant befördert. Damit verbunden ist deine Übersiedelung in eine angemessenere Wohnung.“ 
Sie antwortete kühl: „Genosse General, ich bedanke mich für die Ehre. Ich werde auch in Zukunft mit allen Kräften für den Sieg des Sozialismus arbeiten. Ich erbitte zwei Tage Bedenkzeit für die Auswahl meines persönlichen Stabes. Ich möchte zuerst den internen Abschlussbericht für die vergangenen Monate fertigstellen. Wenn das alles war, möchte ich jetzt bitte gehen.“
Schelepin nickte, ging wieder hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. Oberst Zollnikow salutierte, bevor Aleksandra sich mit einer militärischen Kehrtwendung umdrehte und zur Tür ging. Sie hatte schon die Schnalle in der Hand, als Schelepin sie erneut ansprach: „Ich hatte erwartet, dass du nach Doktor Erath fragen wirst.“ 
Aleksandra drehte sich um und hielt dem forschenden Blick Schelepins mühelos stand: „Ich bin überzeugt davon, dass er sicher nach Österreich zurückgekehrt sein wird. Bei seiner wissenschaftlichen Qualifikation wird er in seiner Institution sicher bald eine Lehrstelle für Kirchengeschichte erhalten. Ich bin mir auch sicher, dass er trotz allem ein positiveres Bild der Sowjetunion und des real existierenden Sozialismus mit nach Österreich genommen hat, als es zur Zeit seiner Ankunft war. Und er wird das Breitspurbahnprojekt bei seinen Stellen positiv bewerten.“ 
Schelepin lächelte: „Und er wird sicher nicht das letzte Mal mit dir zusammengearbeitet haben!“

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